Regeln im Dunkeln

Algorithmus / KI / Soziale Medien / Zitat

Und noch während wir mehr Empathie, schärfere Gesetze, einen Kulturwandel, Zivilcourage, Schulungen für die Polizei und vieles mehr einfordern, müssen wir uns eingestehen, dass wir im Dunkeln tappen. Denn die digitale Architektur, die diese Entwicklungen prägt, ist intransparent. Es wird zwar viel gemutmaßt und philosophiert, doch die Algorithmen auf den prominentesten sozialen Plattformen sind für die Öffentlichkeit nicht einsehbar.

Stellen Sie sich ein skurriles Abendessen vor, bei dem weder Sie noch die anderen Gäste begreifen, nach welchen Regeln das Tischgespräch verläuft, an dem sie doch alle beteiligt sind. Sie wissen nicht, warum der eigentlich kluge Kommentar Ihrer Sitznachbarin so leise klingt und von den meisten anderen am Tisch anscheinend nicht gehört werden kann. Sie wissen nicht, warum das lustige Familienvideo eines anderen Sitznachbarn stundenlang am Tisch herumgereicht wird. Sie wissen nicht, warum ein einzelner Wortbeitrag plötzlich alle anderen übertönt. Sie wissen nicht, warum eine Zufallsbekanntschaft, die eben noch am anderen Ende des Tisches platziert war, nun plötzlich neben Ihnen sitzt und Ihnen alte Hochzeits- und Urlaubsfotos vor die Nase hält. Die Sprache am Tisch wird aus irgendeinem Grund rauer. Jemand tobt vor Wut, die Stimmung kippt. Es schreit ein Mann quer über den Tisch und hält den alten Tweet einer Politikerin hoch, ein anderer wedelt mit einem Blog-Eintrag aus der letzten Woche. Die anderen schreien empört zurück. Chaos.

Warum, so müsste die Frage lauten, machen wir eigentlich freiwillig mit bei einem Spiel, dessen Regeln wir nicht kennen? Anlässe, dies nicht mehr zu tun, gibt es mehr als genug.

Kübra Gümüşay (2021) Sprache und Sein. 2. Auflage, btb Verlag, München, S. 118-119