Geschichte heißt nicht nur: Handlung und Erfahrung, sondern auch: über vergangene Welt zu verfügen und sich als deren rechtmäßiger Erbe zu begreifen. Solches Bewußtsein hofft, dadurch seiner eigenen Geschichte mächtig zu werden — und es zu bleiben. Historisches Denken dieses Ursprungs begreift sich einem naiven Geschichtsbewußtsein gegenüber als überlegen jedoch gleichzeitig unterliegt es der Anstrengung, der Geschichte Vergängliches zu entreißen. Es ist, als wäre es die “Natur” der Geschichte, alles zu verschlingen, so, als gäbe es keine geschichtliche Kontinuität: Nichts bleibt übrig. Die “Geschichte” der Natur hat nach dieser Logik denselben Charakter. In solchem Denken ist die Vorstellung eingeschlossen, selbst nicht Geschichte zu machen, Autonomie historisch nicht zu kennen, wohl aber Gewalt. Es ist geschichtliches Resultat für die gesellschaftlich unterdrückten Klassen, keine Geschichte zu haben. Für das Bürgertum dieser Zeit bedeutet dies: Es hat, um die politische Herrschaft kämpfend, gegen das kulturelle Diktat des Feudalismus Geschichte und Geschichtsbewußstein als Produktivkraft zu entwickeln. Die Archivierung und vor allem die Auswertung geschichtlicher Überlieferung, d. h. das Sammeln und Bilden, das Vergleichen und Kategorisieren historischer Schätze, gehören zum Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Geschichtsauffassung, wie sie im 19. Jahrhundert entsteht. Ziel einer sich nach solchen Kriterien organisierenden Geschichtswissenschaft ist es letztlich, den eroberten Reichtum nicht nur politisch und kulturell zur Schau, sondern auch der ökonomischen Verwertung zur Verfügung zu stellen.
Hartmut Vinçon (1991) Nachwort. Geschichten. In: Theodor Storm (1918/19 [1888]) Der Schimmelreiter. Goldmann, München, S. 117-118