Die Grenze und der Übergang sind Phänomene, die mich schon seit einigen Jahren beschäftigen: das betrifft sowohl den physischen Raum als auch den historischen Zeithorizont. Die Grenze, der Rand, die Liminalität, die Übergangszone und die Zwischenwelt sind reichlich abstrakte Begriffe und bilden einen je höchst eigentümlichen Ort, an dem es möglich ist, einer anderen Macht zu begegnen, an dem man das Risiko läuft, sich zu verwandeln, von dem es schwierig ist zurückzukommen, so die Beschreibung der französischen Anthropologin Nastassja Martin in ihrem Buch “An das Wilde glauben” (2021: 116). Meine eigene Gegenwart ist durchdrungen von Fragen, die folgende Bereiche berühren (alphabetisch): Alter, Anarchie, Arbeit, Architektur, Bürgertum, Corona, Ethik, Europa, Familie, Feminismus, Gesellschaft, Herkunft, Kinder, Klasse, Krankheit, Kunst, Land, Moderne, Nation, Postmoderne, Sprache, Stadt, Werte … und all die dazugehörigen Unsicherheiten und Ungereimtheiten.
Die Beschäftigung mit Grenzräumen und Übergangszeiten manifestiert sich auch in meiner akademischen Arbeit. Bisher habe ich mich diesem Themenkomplex in Abschlussarbeiten und Seminaren gewidmet, habe mich damit auf Reisen beschäftigt und Alltagserfahrungen gesammelt. Manchmal mit der Fotokamera beobachtend, oft schreibend, immer interessiert am geografischen, kulturellen und spirituellen Grenzgang. Prominent wurde das auch theoretisiert von Georg Simmel (sozial-räumlich), Edmund Husserl (phänomenologisch), Marc Augé (anthropologisch), Gil M. Doron (geografisch), etc. Da wo das Eine auf das Andere stößt, geschehen meist unerwartete Dinge.
Das betrifft auch mein derzeitiges akademisches Schaffen: thematisch, methodisch und institutionell. In den letzten Jahren haben mich vor allem neue utopische Modelle in der Architektur beschäftigt. Die Publikation “Mikro-Utopien der Architektur” beschreitet nun ganz eigene Übergangs- und Grenzbereiche, die sich darin zeigen, dass über das Feld der Architekturforschung hinaus, transdisziplinäre Dialoge dazu angestoßen werden.
Die Lyrikerin Dorothee Elmiger beschreibt in ihrem in lyrischer Prosa verfassten Rechercheprotokoll “Aus der Zuckerfabrik” eine eindrückliche Passage über Ziegen, die mich dazu veranlasste den vorliegenden Post zu formulieren, denn sie fängt darin ein Phänomen ein, was mein derzeitiges Arbeitsgefühl gut beschreibt: Der Anfang einer neuen Recherche wirft mich ins Ungewisse. Der Wechsel von einem Denkkosmos in den anderen ist aufregend, schön und beunruhigend gleichermaßen.
Es gibt eine Episode aus meiner Kindheit […]: wie nämlich mein Vater als Forstadjunkt einmal zu einer Alp hochfuhr und mich […] mitgenommen hat. Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, jedenfalls erinnere ich mich daran, dass ich aus den Fenstern des weißen Jeeps vor allem die baumfreien Regionen, die felsigen Hänge vor dem trüben Himmel sah. Nach der Fahrt hoch zur Alp über die steil ansteigende Straße standen wir am Rand eines Bergsees, und während sich also mein Vater mit dem Landwirt unterhielt, der seine Tiere dort sömmerte, sah ich […] in einiger Distanze eine Ziege. […] Ihr weißes Fell leuchtete mir entgegen und natürlich wollte ich unbedingt in die Nähe dieser Ziege gelangen, ich wollte das Rätsel lösen, das die Ziege, die wie ein Phantom mitten in der Wiese stand, mir stellte, aber schon damals wusste ich natürlich, dass es unter Umständen nicht so einfach war, in ihre Nähe zu gelangen: Ich musste mich dem Tier empfehlen, ich musste eine Sprache für die Ziege finden, ich musste ihr zu verstehen geben, dass ich sie zwar betrachten, aber nicht töten wollte. Jedes Kind weiß von der Unberechenbarkeit, dem Eigensinn der Tiere. Oft entwischen sie im letzten Moment. Was ich sagen will: Wie ich damals dieser Ziege gegenüberstand, die nicht viel kleiner war als ich selbst, wie wir uns Aug in Aug gegenüberstanden, so hatte ich auch hier angefangen, mit diesen Überlegungen: Ich rechnete durchaus damit, dass alles fruchtlos bleiben würde. Aber? Aber kaum hatte ich, das Kind, also den Plan gefasst, mich der Ziege zuzuwenden, traten hinter dem Tier weitere Ziegen auf die Wiese, und zusammen setzten sie sich augenblicklich in Bewegung und kamen rasch auf mich zu, die ganze Herde des Bauern trabte in meine Richtung. Du kannst dir vorstellen, dass ich jubelte bei der Aussicht, dass die Ziegen so ganz freiwillig herkommen würden (…) sehr zielstrebig auf mich zusteuerten, das Kind, das kaum größer war als diese Ziegen. Sie umringten mich, drängten sich zu mir vor, die hinteren stellten sich auf die Hinterbeine, um mich so über die Köpfe der vorderen hinweg zu sehen. Ich erinnere mich an ihre kühlen, wässrigen Augen, lustige Augen, an ihre schmalen Köpfe und ihre hellen Nasen, mit denen sie mich anstießen, und dann an ihre Zungen, mit denen sie über meine Hände und mein Gesicht zu fahren begannen. Ich sehe genau, wie das Kind diese Geister, die es kurz zuvor noch rufen wollte, nun mit beiden Händen zu vertreiben versucht, wie es die zudringlichen Tiere, die sich so hemmungslos auf es stürzen, die es belagern, immer wieder von sich stößt. Der Vater und der Landwirt belustigt: Die Ziegen haben noch niemandem etwas zuleid getan. Aber dem Kind ist es zu viel, es sieht nur noch die Zungen und die Münder, die sich öffnen, es spürt die Körper der Ziegen an seinem eigenen Körper und die Klauen, mit denen sie ihm auf den Füßen rumstehen, und es beginnt laut zu weinen, und viel später noch, als es längst wieder auf dem Rücksitz des Autos sitzt, ist es immer noch erschöpft und fassungslos. So siehst du dich jetzt? Nur dass die Ziegen in diesem Fall nun körperlos sind. Wobei es doch stimmt, dass die Ziegen, wie dein Vater und der Bauer sagten, dass sie eigentlich ganz harmlos sind. Aber dieses Verlangen, mit der Ziege zu sprechen, die Ziege zu verstehen, das ist doch unter Umständen nicht ungefährlich.
Ich habe nun noch einmal länger darüber nachgedacht, was du über Ziegen gesagt hast. Und was mir dann eingefallen ist: Dass die berühmten Medien nach ihren Sitzungen jeweils eine Art Zusammenbruch erfahren und unter großer Erschöpfung leiden. Vor einigen Tagen, nachdem ich wochenlang im Libro de la vida von den Krankheiten und Ekstasen der heiligen Teresa gelesen und mir einen Reim darauf zu machen versucht hatte, begannen auf einmal meine Glieder sehr zu schmerzen oder vielmehr zu zittern, sodass ich tagelang kaum mehr aufstehen mochte. Ich schleppte mich in die Waschküche, und wenn es sein musste, ging ich einkaufen, das war alles, und meine Mutter meinte am Telefon, mir fehle es vielleicht an Eisen im Körper (…). Der Punkt ist, dass ich sehr spät erst dachte, wie lustig es doch sei, dass mich gerade jetzt, da ich mich mit den Ohnmachten und den Schmerzen der Heiligen beschäftigte, diese eigentlich grundlose Schwäche befallen hatte. Also ich glaube schon, dass wir uns eben in diesen Momenten außerhalb dessen bewegen, was wir verstehen, und dass das sehr anstrengend ist. Und wie dann, wenn zu viel von dem Medium verlangt wird, auf einen Schlag das Gespräch abbricht und das Medium niedersinkt, als hätte man ihm einen Stoß verpasst, das leuchtet mir ein. Im Wörterbuch heißt es ja auch, das Wort “ahnen” komme vom mittelhochdeutschen -mir, mich anet-: ‘Es kommt an mich heran’, d.h. ‘ich sehe voraus’. Das Kind ist so müde, weil ihm die Ziegen so nah gekommen sind (Elmiger, 2020: 182-185).
[gute Texte sind, und widerständig]
Hatte ich mich doch gerade im großen Denkkosmos der Utopie so gut eingerichtet … stehe ich nun vor einer Forschungsaufgabe, begleitet von einem weiteren universitären Institutionswechsel, den ich erneut als Übergangs- und Grenzsituationen erlebe. Das ist zwar abwechslungsreich, aber läßt mich dennoch so manches infrage stellen, z. B. ob das “wandernde Wissen” der Forschung langfristig zu Gute kommt.
Fortsetzung folgt (in: DAS FÖHTONG Nr. 2)