Planetarische Klaustrophobie

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Das Spazierengehen entlang am Nordufer des Spreekanals in Richtung des Weddinger Plötzensees und darüber hinaus, ist eine Konstante, die mir Kraft gibt. In der sommerlichen Schwimmsaison ist der See meist allzu veralgt, jedenfalls für menschliche Mimosen. Das Schwimmen kommt aber heute ohnehin nicht infrage, denn das Wetter ist ziemlich trist, grauer Himmel, kalte Luft, durchsetzt mit Schnee- und Hagelschauern. Ich habe es drinnen nicht mehr ausgehalten; es bleibt zu hoffen, dass es (in Berlin) nicht zu einer vollständigen Ausgangssperre kommt — nicht raustreten zu dürfen, Freund*nnen nicht treffen zu können, selbst auf zwei Metern Abstand, ist eine schreckliche Vorstellung. Alleine, tagelang schon niemanden mehr berühren zu können ist eine neue, existenzielle Erfahrung und macht mir das sozialpsychologische Ausmaß der ganzen Situation bewusst.

Merkel appelliert derzeit an die Vernunft der Bevölkerung. Ich finde das — als politischen Akt — stark und mutig. Dennoch patrouillieren Polizeiautos am Seeufer … immerhin wird der städtische Luftraum hier noch nicht von Drohnen kontrolliert, wie mir vorgestern aus Madrid berichtet wurde.

Ich gehöre zu denen, die einigermaßen privilegiert sind … denke ich und schnappe im Gehen marxistisch informierte Gesprächsfetzen von zwei Männern mittleren Alters, die an mir vorbei schlendern, auf:

Person 1, selbstbewußt: „ … das Proletariat macht die Revolution.“

Person 2, in ungläubig fragendem Tonfall: „Ja.“

Person 1, reflektierend: „ … hat nicht gestimmt, aber …“

Im Moment sind wir alle durch das Internet mit der Welt verbunden; am Schreibtisch in der Wohnung im Haus im Kiez in der Hauptstadt des Landes im Staat auf dem Kontinent auf dem Planeten. Und hier beginnt das Problem. Wohin, wenn die ganzheitliche Schönheit der Terra Mater, ihre biodiverse Funktionalität und das multiethnische Paralleluniversum unseres be- und gewohnten terrestrischen Habitats, der Gaia, dem Untergang geweiht ist. All das kommt in der derzeitigen sozioökologischen Situation einem Gefühl planetarischer Klaustrophobie gleich. Der kollektive Mensch kann die Erde nicht verlassen. But I won’t back down!

Zu Hause angekommen, wärme ich mein Inneres mit einem Tee und meine Schultern mit einer kunstvoll gehäkelten Stola aus kratzig-seidenweicher Wolle, die ich vor einigen Wintern auf dem Wochenmarkt, gleich neben dem Hauptbahnhof von Tallinn/Estland, einer älteren, runzligen, russischen Dame abgekauft habe. Ob die Schulterverspannung nun von der Kälte, von der Schreibtischarbeit oder vom digitalen Fensterblick ins Internet kommt, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass mich das wollene Häkelwerk schützt. Es erinnert mich an eine kaum vergangene Vergangenheit, in der das Reisen noch zu meinem Leben gehörte, programmatisch. Diese Emphase macht mir Corona2020/COVID-19 als historisches Ereignis deutlich. Im Hinblick auf Zukünftiges ist es, hier im sicheren Deutschland, eine spannende Zeit. Ich versuche die Bilder von Moria/Lesbos, aus dem Krieg im Jemen und der Situation der Tagelöhner in Indien zu vergessen. Einfach so, damit ich später ein paar Stunden Schlaf finden kann.