Das missverstandene Zitat

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Seit wann werden Soziale Medien eigentlich mit Zitaten, die kaum eine Satzlänge überschreiten (tweetable), überschwemmt? Sie erscheinen meist in quadratischem Format vor monochromem Hintergrund (instagramable). Sie kommen Kalendersprüchen oft näher als Zitaten, die per definitionem durch eine Quellenangabe oder einen Literaturnachweis belegt werden; alles andere sind unreflektierte Meinungsfragmente. Kalendersprüche können von erfrischender, kurzweiliger und erkenntnisreicher Qualität sein. So manches “gute, schöne und wahre” Zitat wurde auch vor dem Digital Turn schon in Küchenkalendern abgedroschen.

Es ist ein neues Medienritual; ein Tohuwabohu kurzer Erinnerungen an die Existenz zahlreicher Medienmacher*innen, Unternehmen, öffentlicher Institutionen und allerlei Soloselbständigen, die sich damit teils mehrmals täglich Gehör verschaffen, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Schlagzeilenhafte Erkenntnisse scheinen wissenden Orakeln gleich, die gut und schnell verdaubar in den Äther der anderen gespült werden. Daraus ergibt sich ein Panorama der digitalen Gegenwartskultur bzw. ergeben sich in individualisierten Feeds oft absurde Gegenüberstellungen:Politische Aussagen von narzisstisch beeinträchtigten Staatschefs finden sich neben Zeilen aus Bob Dylans neustem Album wieder; antike philosophische Erkenntnisse stehen ökologischen Spültipps gegenüber; jüngste Erkenntnisse aus der deutschen Fleischindustrie finden sich neben zweifelhaften Beautytipps wieder; Fakten über die voranschreitende Abholzung des brasilianischen Regenwalds stehen der Anpreisung von leistungsstarken E-Motoren gegenüber; Updates zur Zahl der Corona-Toten finden sich neben neusten Erkenntnissen aus der Kinderpsychologie wieder; etc.Oder hängt doch alles mit allem zusammen?